Funktionale Wirbelsäulenstabilität

Funktionale Wirbelsäulenstabilität

PSA2: Die Erfassung der funktionalen Wirbelsäulenstabilität

Juliane Müller, Steffen Müller, Josefine Stoll, Tilman Engel & Frank Mayer
Universität Potsdam – Hochschulambulanz

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Einleitung & Problemdarstellung

Die Kompensation externer Kräfte durch den Rumpf ist maßgeblich für die Prävention von Verletzungen2. Die Fähigkeit, das „Rumpfgleichgewicht“ trotz Anwesenheit externer mechanischer Kräfte oder „neuromuskulärer Fehler“ aufrechtzuerhalten, charakterisiert dabei die Rumpfstabilität. Die valide Erfassung der Wirbelsäulenstabilität über die Kinematik, insbesondere in Belastungssituationen, die über die Extremitäten ausgeführt werden, sowie ein Zusammenhang der Wirbelsäulenkinematik und der muskulären Aktivität ist nicht abschließend geklärt1. Ziel der Studie ist die Erfassung der funktionalen Wirbelsäulenstabilität in Situationen, in denen über die untere/obere Extremität eine Belastung generiert wird. Außerdem ist zu klären, in wie weit eine Trainingsintervention die funktionale Wirbelsäulenstabilität verbessern und folglich Rückenschmerzen vorbeugen kann.

Methodik

Die Studie wurde im randomisierten, kontrollierten (RCT) 4 Gruppendesign mit einer 6-wöchigen center-based Interventionsphase (3 Einheiten/Woche) durchgeführt. Gruppen: Kontrollgruppe (KG; keine Intervention), Intervention 1 (KR; Kraft/Rumpf, gerätegestützt), Intervention 2 (KE; Kraft/Extremitäten, gerätegetützt) und Intervention 3 (SMT; Sensomotorik, gerätegestützt). Es wurden N=48 Probanden in die Studie eingeschlossen (w/m 30/18; 29±8J; 174±10cm; 70±13kg; KG: N=12; KR: N=12; KE: N=12 ; SMT: N=12).

Kinematik-Rumpf-Modell-mit-3-Segmenten

Abb. 1 Kinematik Rumpf-Modell mit 3 Segmenten

Prä/post Intervention erfolgte eine komplexe biomechanische Analyse. Als Belastungssituationen dienten Gang- (+Störreiz) und Alltagsbewegungen (Lasten heben). Als Hauptzielkriterium wurde die Kinematik der Wirbelsäule über ein dreidimensionales Videosystem (Vicon, OMG, UK) erfasst (Abb. 1). Für die Kinematik erfolgte die Berechnung der max. Bewegungsamplitude (ROM; [°])sowie der relativen Winkel zw. den Segmenten [°]. Als Nebenzielkriterium wurde die muskuläre Aktivität der rumpfumgreifenden Muskulatur über ein 12-Kanal-EMG3 (myon 320 EMG, CH) abgeleitet und der Rückenschmerz über den Korff-Fragebogen erhoben. Zusätzlich wurde der Trainingszustand erfragt. Messgrößen für die muskukäre Aktivität in den Belastungssituationen Heben/Stolpern waren die Latenz auf den Stolperreiz (ms) sowie die Amplitude (RMS (Heben: gesamter Hebezyklus; Stolpern: 200ms nach Perturbation). Es wurden vier Muskelgruppen: ventral rechts (VR), ventral links (VL), dorsal rechts (DR) und dorsal links (DL), sowie Ratios zwischen ventral:dorsal (V:D) und rechts:links (R:L) gebildet.

Ergebnisse

Pilotstudien: Die Überprüfung der Reproduzierbarkeit des entwickelten Rumpf-Marker-Setups zeigt ICC Werte zw. 0,76 – 0,97 für das Stolpern sowie das Heben. Unterschiede im ROM zw. den 3 Segmenten sind sowohl beim Heben als auch beim Stolpern erfassbar, wobei die Lateralflexion des Rumpfes die größten Unterschiede bei Perturbation zeigt.

Querschnittsanalyse: Über eine Schmerzklassifikation nach Korff (Grad=0: keine Rückenschmerzen; Grade≥2: Rückenschmerzen) erfolgte der Vergleich der Rumpfaktivität bei Gesunden (N=12; G) und CURS-Patienten (N=14; CURS). Die applizierten Perturbationen führten zu Erhöhungen von 450±138% (DL in G) bis 686±382 % (VR in CURS) der EMG Amplituden gegenüber dem unperturbiertem Gang. Alle Muskelgruppen (VR, VL, DR, DL) zeigten erhöhte Amplituden für CURS gegenüber G, (max. Differenz: 212% für VR)(Abb. 2). Die Amplituden-Ratios ergaben für V:D 1.0±0,3 (G) und 1,2±0,5 (CURS), sowie für R:L 1,1±0,3 (G) und 1,2±0,4 (CURS). Kein Gruppenvergleich zwischen G und CURS war statistisch signifikant.

EMG-RMS

Abb. 2 EMG-RMS% (normalisiert auf den unperturbierten Gang) während Perturbation im Gang im Vergleich von CURS (rot) und Gesunden (grau)

Diskussion

Pilot: Die Ergebnisse der Pilotstudien konnten zeigen, dass das entwickelte multi-segmentale kinematische Rumpfmodel sowohl für die Belastungssituationen über die obere (Heben) als die untere Extremität (Stolpern) eine reliable Erfassung der Bewegungen (3 Ebenen/3 Segmente) ermöglicht. Die Unterschiede zw. den 3 Segmenten beim Heben als auch beim Stolpern unterstützen die Relevanz eines multisegmentalen Rumpf-Modells bei der Betrachtung der Bewegungen des Rumpfes in alltäglichen Belastungssituationen.

Querschnitt: Es konnten im Ausmaß relevante Erhöhungen der muskulären Aktivität als Reaktion der Rückenschmerzgruppe auf die Perturbationen identifiziert werden. Limitierend ist jedoch die hohe Variabilität des Signals während der dynamischen Belastungsaufgabe und die geringe Gruppengröße, die diese Erhöhungen nicht statistisch absichern lässt.

Zusammenfassung

Die Kinematik des Rumpfes ist mit dem neu entwickelten multi-segmentalen Modell in dynamischen Belastungssituationen reliabel erfassbar. CURS-Patienten zeigen relevante Erhöhungen der muskulären Aktivität als Reaktion auf unerwartet, plötzlich auftretende Lasteinwirkungen.

Literatur

  1. Cholewicki J, Simons APD, Radebold A. 2002. Effects of external trunk loads on lumbar spine stability. Journal of Biomechanics. 33(11):1377–85.
  2. Hibbs AE, Thompson KG, French D, Wrigley A, Spears I. 2008. Optimizing performance by improving core stability and core strength. Sports Medicine. 38(12):995–1008.
  3. Radebold A, Cholewicki J, Panjabi MM, Patel TC. 2000. Muscle response pattern to sudden trunk loading in healthy individuals and in patients with chronic low back pain. Spine. 25(8):947–54.

Kontaktadresse

Prof. Dr. Frank Mayer / Juliane Müller
Universität Potsdam – Hochschulambulanz
Am Neuen Palais 10 Haus 12
14469 Potsdam